Der Anfang vom Ende
Das drehen am Ölhahn könnte bald nichts mehr nutzen: Experten warnen davor, dass der Höhepunkt der Förderung überschritten ist - und das schwarze Gold knapper wird. (Foto: dpa)
ENERGIE / Shell hat mit der massiven Korrektur der Ölreserven generelle Zweifel an den vorhandenen Ressourcen ausgelöst.
ESSEN. Es war ein Vorgang, der jüngst die Wirtschaftswelt erschütterte: Shell musste innerhalb weniger Tage seine Ölreserven mehrfach nach unten korrigieren. So verlor der niederländisch-britische Konzern 25% seiner verbuchten Vorräte. Die Aktien brachen ein, der Ölpreis stieg deutlich an. Und es wird mit ziemlicher Sicherheit ein Nachbeben geben: Denn es wachsen die Zweifel an den offiziellen Prognosen über die weltweiten Erdölreserven. Die Frage aller Fragen: Ist Shell die Ausnahme oder die Regel der Branche?
Dr. Werner Zittel vom Ludwig Bölkow Institut für Systemtechnik forscht seit Jahren an dem Thema. Und er sieht in dem Vorgang einen weiteren Beleg dafür, dass Reserve-Prognosen fürs Öl alles mögliche widerspiegeln - nur nicht unbedingt reale Erwartungen. Vielfach würden die Vorhersagen über die Größe von Ölfeldern und über Fördermengen politisch instrumentalisiert, meint der Physiker im Gespräch mit der Neuen Ruhr Zeitung.
Ideologisch bedingte Reserven
In der Organisation der Erdöl exportierenden Ländern (Opec) etwa werden Förderquoten unter anderem anhand der Menge der Reserven vergeben; will heißen: viel Reserve = hohe Quote = gute Einnahmen. Die Internationale Energie-Agentur (IEA) wiederum sei zu Zeiten der ersten Ölkrise 1974 gegründet worden. Ihr wichtigstes Ziel: Sie sollte ein Gegengewicht zum Preisdiktat der Opec bilden. Das heißt: Unterstützung der Ölförderung in Nicht-Opec-Staaten und Verbreitung der Botschaft „Wir brauchen die Opec nicht“. Deshalb neige auch die IEA zu Optimismus bei den Reserven.
Ein weiterer Grund dafür, dass die Branche reale Zahlen scheut: Wenn die Prognosen für den Weltvorrat an Öl offiziell gesenkt werden, dann dürfte die große Stunde der Energie-Alternativen schlagen. Daran ist die Öl-Branche nicht interessiert. Bleibt die Konkurrenz klein, dann kann der Ölpreis ungehindert steigen, wenn das schwarze Gold knapper wird.
Und dieses Szenario ist durchaus realistisch: Die Datenlage jedenfalls lässt wenig Optimismus zu. Von den 42 000 bekannten Ölfeldern enthalten laut Zittel die 400 größten mehr als 75% des gesamten Öls. Diese großen Felder (so genannte Giants) wurden relativ früh - meist in den 60er Jahren - entdeckt. Inzwischen findet man nur noch kleinere Felder. Heute werden weltweit pro Tag 77 Millionen und pro Jahr 28 Milliarden Barrel Öl gefördert - aber nur 6 Milliarden neu entdeckt. Etwa 80 % der Produktion stammen aus Feldern, die bereits seit 20 Jahren angezapft sind.
Und: Die Ausbeutung eines Ölfeldes verläuft nicht geradlinig, sondern folgt einer glockenförmigen Kurve: In der Frühphase wird das Feld Stück für Stück erschlossen - die Produktion steigt stetig. Bei voller Erschließung ist die maximale Produktion erreicht - die allerdings bei zunehmender Ausbeutung wieder fällt, etwa weil der geologische Druck des Öls zu sinken beginnt. Und weltweit gehen Experten inzwischen davon aus, dass dieser Wendepunkt bei der Ölförderung außerhalb der Opec bereits erreicht ist. In Großbritannien und den USA sinkt die Produktion seit Jahren schon.
Eine weitere Rechnung: 820 Milliarden Barrel betragen derzeit die bekannten förderbaren Reserven, vermutete Reserven noch einmal 150 Milliarden. In diese Schätzungen fließen keine Öl-Sande ein: Ihr Abbau gilt als unrealistisch - der Sand müsste abgetragen und ausgepresst werden, ganze Regionen würden damit verwüstet. Die Hälfte des weltweit verfügbaren konventionellen Öls gilt als verbraucht: Die andere würde noch 33 Jahre ausreichen - vorausgesetzt die Nachfrage steigt nicht und die Prognosen werden nicht weiter nach unten korrigiert. Beides gilt als eher unwahrscheinlich. Allein China hat im ersten Quartal 2004 täglich 6,1 Millionen Barrel und damit 18% mehr als im Vorjahreszeitraum verbraucht.
Shell und das Spiel mit den Zahlen
Und die Prognosen sorgen zunehmend für Unsicherheit. Warum, das macht das Beispiel Shell deutlich: Der Konzern hält Anteile am größten neu entdeckten Feld in Norwegen: Ormen-Lange. Das übliche Vorgehen bei neuen Feldern: Geologen geben eine Schätzung über die vorhandenen Ressourcen ab. Die Konzerne verbuchen in ihren Bilanzen aber nur die Menge an Öl und Gas, die mit der vorhandenen Erschließung tatsächlich gefördert werden kann - dies gilt als „nachgewiesene Reserve“. Es fällt auf, dass Shell diese „nachgewiesene Reserve“ mit 60% der Geologen-Schätzung in ihren Büchern angibt. Andere am gleichen Feld beteiligte Konzerne verbuchen aber nur 25% (Statoil) beziehungsweise 35 % (Exxon). Nun hat Shell - aufgrund einer Bilanzprüfung - seine nachgewiesene Reserve an Ormen-Lange ebenfalls auf 21% gesenkt. Allerdings: Andere Groß-Konzerne wie BP haben ähnlich hohe „nachgewiesene Reserven“ an Ormen-Lange wie ursprünglich Shell in den Bilanzen stehen. Denn die Reserven sind der wichtigste Wert der Öl-Konzerne. Und wegen der sinkenden Menge an neu entdecktem Öl neigen die Unternehmen zunehmend dazu, jedes Feld mit der maximalen Prognose abzurechnen - unabhängig davon, ob es tatsächlich erschlossen ist.
Eine ähnliche Hypothek lastet nach Ansicht des amerikanischen Invest-Bankers Matt Simmons auch auf der Opec. Die Organisation betreibt traditionell eine eher vernebelte Informationspolitik. Da sie aber offiziell über 70 % der weltweiten Öl-Reserven verfügt, ist sie entscheidend für reale Reichweiten-Prognosen. Die aber sind zunehmend mit Fragezeichen behaftet: Saudi-Arabien beispielsweise ist weltweit der größte Erdöl-Förderer - nach eigenen Angaben zehn Millionen Barrel pro Tag. Simmons, der vor allem in der Energie-Branche tätig ist, hat nun eine bemerkenswerte Analyse über das größte Ölfeld der Saudis vorgelegt - „Ghawar“, das etwa die Hälfte der Produktion des Landes liefert. Nach Angaben Simmons ist das Feld, das seit 40 Jahren ausgebeutet wird, praktisch am Ende. Simmons begründet seine These mit dem Hinweis, dass die jetzigen hohen Förderquoten von „Ghawar“ nur noch durch massive Wasserinjektionen erreicht werden, die den Druck im Feld erhöhen. Das deute aber daraufhin, dass sich „Ghawar“ in den letzten Zügen befindet.
Saudische Quellen vor dem versiegen?
Simmons zieht Parallelen zu einem großen Vorkommen in Oman: Das dortige „Yibal“-Feld lieferte noch 1997 über 25% der Ölproduktion des Landes. Nach jahrelangen Wasserinjektionen sei es 2001 jedoch zum Kollaps gekommen: Die Förderung sackte laut Simmons um 65 % ab, um in den folgenden Jahren weiter zu versiegen. Auch in den Opec-Vorhersagen lauern also enorme Unsicherheiten.
Die Gesellschaft muss sich nach Ansicht von Werner Zittel vor dem Hintergrund dieser Szenarien also auf weiter steigende Ölpreise und - noch besser - auf Alternativen einstellen. Innerhalb der kommenden 15 Jahren ist nach diesen Berechnungen bereits der Zeitpunkt erreicht, da das Öl-Angebot auf dem Weltmarkt die Nachfrage nicht mehr deckt. Dann würden die Preise erst recht explodieren. (NRZ)
04.05.2004 ANDREAS FETTIG
http://www.nrz.de